Introduction to EU Anti-discrimination Law

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INHALT

Modul 6:
Fallstudie

 

Bedeutung der Begriffe „Behinderung“ und „angemessene Vorkehrungen“

HK Danmark, verbundene Rechtssachen C-335/11 und C-337/11, 11. April 2013

Sachverhalt:
Frau Ring war bei einer Wohnungsbaugesellschaft in Dänemark beschäftigt. Während eines Zeitraums von mehr als vier Monaten zwischen Juni und November 2005 war sie wegen ständiger Schmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule krankgeschrieben. Frau Werge war als Sekretärin/Büroassistentin bei dem Unternehmen Pro Display beschäftigt. Im Jahr 2003 hatte sie einen Verkehrsunfall, bei dem sie ein Schleudertrauma erlitt. Sie war deshalb von Januar 2005 bis April 2005 für die volle Arbeitszeit krankgemeldet.
Sowohl Frau Ring als auch Frau Werge wurde von ihren Arbeitgebern mit einer Kündigungsfrist von einem Monat gekündigt. Dies entsprach einer dänischen arbeitsrechtlichen Bestimmung, nach der Arbeitnehmern, die innerhalb von zwölf aufeinanderfolgenden Monaten insgesamt 120 Tage lang krankgeschrieben waren, mit dieser Frist gekündigt werden darf. Dies war weniger als die übliche Kündigungsfrist von drei Monaten nach Ablauf der ersten sechs Monate des Arbeitsverhältnisses.
Nach ihrer Entlassung trat Frau Ring eine neue Stelle mit einer Arbeitszeit von 20 Wochenstunden an. Nach der Entlassung von Frau Werge wurde in einem Klärungsverfahren festgestellt, dass sie ungefähr acht Stunden pro Woche arbeiten könne. Frau Werge wurde in der Folge wegen ihrer Arbeitsunfähigkeit invalidisiert.
Frau Ring und Frau Werge erhoben Klage, in der geltend gemacht wurde, dass bei beiden eine Behinderung vorgelegen habe und dass ihre Arbeitgeber ihnen gemäß der in Artikel 5 der Rahmenrichtlinie 2000/78/EG vorgesehenen Verpflichtung, Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung zu treffen, eine Arbeitszeitverkürzung hätten anbieten müssen.

Feststellungen des Gerichtshofs:
Dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention, BRK) stimmte die Europäische Union am 26. November 2009 zu. Da die BRK ein von der EU geschlossenes internationales Übereinkommen ist, ist sie für alle ihre Institutionen bindend, und alle Rechtsvorschriften der EU, einschließlich der Rahmenrichtlinie 2000/78/EG, sind soweit wie möglich im Einklang mit der BRK auszulegen.

Bedeutung des Begriffs „Behinderung“:
Da die Richtlinie keine Definition des Begriffs „Behinderung“ enthält, wandte der Gerichtshof hinsichtlich der Bedeutung des Begriffs „Behinderung“ die Definition der BRK an und stellte fest, dass:

  • der Begriff „Behinderung“ eine Einschränkung erfasst, die auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen ist, welche in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft verhindern kann; und
  • von langer Dauer ist.

Der Gerichtshof stellte ferner fest, dass es sich bei einer Person, die Beeinträchtigungen hat, aber nur in Teilzeit arbeiten kann, um eine Person mit einer Behinderung handeln könnte.

Angemessene Vorkehrungen:
Erwägungsgrund 20 der Richtlinie enthält eine nicht abschließende Auflistung von Maßnahmen, die angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung im Beschäftigungsbereich darstellen können. Eine Arbeitszeitverkürzung fällt unter den „Arbeitsrhythmus“ gemäß der Festlegung in Erwägungsgrund 20 und kann eine angemessene Vorkehrung darstellen.
Infolgedessen ist eine nationale Bestimmung, die die Entlassung eines behinderten Arbeitnehmers mit einer Kündigungsfrist von einem Monat gestattet, nicht rechtmäßig, wenn die betroffene Person krankheitsbedingt im Zusammenhang mit der Behinderung abwesend ist und für den Arbeitnehmer angemessene Vorkehrungen in Form einer Arbeitszeitverkürzung bereitgestellt hätten werden können.

Unmittelbare und mittelbare Diskriminierung wegen einer Behinderung:
Es lag keine unmittelbare Diskriminierung wegen einer Behinderung vor, da die Politik der Kündigung von krankheitsbedingt abwesenden Personen für alle Arbeitnehmer galt.
Bezogen auf mittelbare Diskriminierung wegen einer Behinderung benachteiligte die Politik der dänischen Regierung Menschen mit Behinderung in besonderer Weise, da bei ihnen die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung größer war. Die Frage lautete, ob die Politik ein rechtmäßiges Ziel hatte und angemessen war. Die Politik diente dem rechtmäßigen Ziel der Schaffung eines flexiblen Arbeitsmarkts und der Förderung von Einstellungen. In Bezug auf die Angemessenheit der Politik musste die Notwendigkeit eines flexiblen Arbeitsmarkts gegen die nachteiligen Auswirkungen der Politik auf Menschen mit Behinderung abgewogen werden, was allerdings Aufgabe der nationalen Gerichte war.

Konsequenzen:
Die Entscheidung macht die rechtlichen Entwicklungen im Bereich der Diskriminierung wegen einer Behinderung seit dem Urteil in der Rechtssache Chacon Navas (C-13/05) deutlich, das vor der Unterzeichnung der BRK durch die EU erging. Der Gerichtshof wandte unmittelbar die Bedeutung des Begriffs „Behinderung“ gemäß der BRK an und gewährleistete so die Konsistenz der Herangehensweise der EU mit der globalen Herangehensweise.
Im Zusammenhang mit angemessenen Vorkehrungen machte die Entscheidung auch deutlich, dass eine Arbeitszeitverkürzung eine angemessene Vorkehrung für Arbeitnehmer mit Behinderung darstellen kann, die ihnen die weitere Erwerbstätigkeit ermöglicht.