Verfahren vor dem Gerichtshof
Das Vorabentscheidungsverfahren: Verpflichtung zur Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens
Treten in einem anhängigen Verfahren Fragen zur Auslegung des Unionsrechts auf, so sind alle innerstaatlichen Gerichte befugt, den Gerichtshof anzurufen (Artikel 267 Absatz 2 AEUV). Vorabentscheidungsersuchen können nur von Gerichten der Mitgliedstaaten, nicht aber von anderen Stellen, z. B. privaten Parteien oder Verwaltungsbehörden, vorgelegt werden (vgl. Rechtssache C-53/03 Syfait; Rechtssache C 394/11, Belov).
Nachgeordnete Gerichte sind befugt, dem Gerichtshof Fragen zur Auslegung vorzulegen, sie sind dazu jedoch nicht verpflichtet. Höhere Gerichte können diese Befugnis nicht einschränken, wenn das nachgeordnete Gericht der Ansicht ist, dass eine bei ihm anhängige Sache eine Vorlage erfordert (Rechtssache C-210/06 Cartesio, Randnr. 88-98). Die letztinstanzlichen Gerichte sind verpflichtet, die Frage an den EuGH zu verweisen (Art. 267 Abs. 3 AEUV). Letzteres bedeutet, dass jedes nationale Gericht, dessen Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, als letztinstanzliches Gericht verpflichtet ist, dem EuGH eine Frage des Unionsrechts vorzulegen, wenn diese für den Ausgang eines anhängigen Verfahrens von Bedeutung ist (Rechtssache C- 99/00 Lyckeskog, Randnr. 14 ff.; Rechtssache C-210/06 Cartesio, Randnr. 75-79).
In der Rechtssache C-416/17 Kommission gegen Frankreich betonte der EuGH die Bedeutung der nationalen Gerichte bei der Umsetzung von Artikel 267 AEUV, der letztlich als Verpflichtung ausgelegt werden kann. In diesem besonderen Fall focht die Kommission unter anderem erfolgreich das Versäumnis des französischen Staatsrats an, in einer Steuersache ein Vorabentscheidungsersuchen zu stellen.
Hat sich der EuGH jedoch bereits mit der jeweiligen Rechtsfrage befasst, oder ist die korrekte Anwendung des Unionsrechts offensichtlich (acte claire), ist ein Vorabentscheidungsersuchen nicht erforderlich. Es ist Sache des innerstaatlichen Gerichts, diese Notwendigkeit zu erkennen. Die Verfahrensparteien können weder ein Vorabentscheidungsersuchen erzwingen, noch sieht das Unionsrecht ein Rechtsmittel gegen die Unterlassung eines Vorabentscheidungsersuchens vor (Rechtssache 283/81 Cilfit u.a., Randnr. 6 ff.).