Konfliktintensität
Zwar haben auch Paare in innerstaatlichen Fällen mit den Verletzungen, der Wut und der Unsicherheit zu kämpfen, die unvermeidlicherweise aus Trennung und Scheidung resultieren, in Kindesentführungsfällen erleben die Parteien jedoch eine Konfliktintensität, die sie als Bedrohung ihrer (aktiven) Rolle als Elternteil und in manchen Fällen ihrer Existenzgrundlage und ihrer Zukunftspläne empfinden. Beide Elternteile haben furchtbare Angst davor, ihr Kind oder ihre Kinder für immer zu verlieren, und sind tieftraurig über die Aussicht, im Alltagsleben des Kindes keine Rolle mehr spielen zu können und/oder so weit voneinander entfernt zu leben, dass sie sich nicht mehr oft werden sehen können – was dann auch noch mit großem Aufwand und hohen Kosten verbunden sein wird. Der entführende Elternteil – in der Regel die Mutter – hat oftmals zu drastischen Maßnahmen gegriffen, um einer Situation zu entrinnen, die als unhaltbar oder sogar als unerträglich empfunden wurde. Auch wenn er sich möglicherweise schuldig fühlt, betrachtet er sich als zu Unrecht der Entführung bezichtigt, weil er keine andere Alternative sah („Er hätte mich niemals gehen lassen!“). In manchen Fällen hat der zurückgebliebene Elternteil einfach nicht erkannt, wie verzweifelt und in die Enge getrieben sich der andere Elternteil gefühlt hat, glaubt aber auf keinen Fall, dass er es verdient hat, dass ihm seine Kinder weggenommen werden („Wie konnte sie mir und unserem Kind das antun?“). Insbesondere wenn das Kind bzw. die Kinder aus einer Situation entführt wurden, die der zurückgebliebene Elternteil als intakt empfunden hat, ist dieser Partner mit der Perspektive konfrontiert, nicht nur das Kind, sondern auch die Beziehung und/oder Ehe verloren zu haben. Dies kann extreme Gefühle auslösen – von dem Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein, bis hin zu Rachegelüsten. Beide Elternteile fühlen sich erdrückt durch die Konfrontation mit einem unbekannten und aus ihrer Sicht unberechenbaren Justizsystem, das für die eine Partei in einem fremden Land und in einer fremden Sprache tätig wird, die der andere Elternteil möglicherweise nicht beherrscht. Typischerweise ist die Kommunikation zwischen den Elternteilen völlig abgebrochen, und der Vertrauensverlust ist absolut. Zu Beginn der Mediation sehen die Parteien möglicherweise absolut keine Möglichkeit, aus dieser völlig verfahrenen Situation herauszufinden: Wie können Konflikte, die sich über Monate und Jahre hinweg aufgebaut haben, innerhalb weniger Tage gelöst werden?